Immer mehr Ausfälle durch psychische Erkrankungen: Wie wird die PsychGBU zum Erfolg?

Oft erzielen auch perfekt durchgeführte Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastung (kurz: PsychGBU) und daraus zielgerichtet entwickelte Maßnahmen nicht den gewünschten Effekt. Woran liegt das und wie können Führungskräfte den Erfolg der PsychGBU beeinflussen?

AdobeStock/ Halfpoint

„Allein der Gedanke an meine Arbeit lähmte mich!“, beschreibt Katja Suding in ihrem gerade erschienen Buch Reißleine ihre Zeit als Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP. In ihrem Buch legt sie die negativen Auswirkungen der psychischen Belastung offen, die aus hohen Leistungsanforderungen und gesellschaftlichem und medialem Druck resultiert. Diese Erfahrung machen nicht nur Politikerinnen und Politiker, die negativen Auswirkungen psychischer Belastung durch die Arbeit beeinträchtigen zunehmend alle Arbeiternehmer und Arbeitnehmerinnen egal welcher Beschäftigungsarten.

Psychische Erkrankungen steigen seit Jahren

Psychische Erkrankungen steigen in allen Berufsgruppen von Jahr zu Jahr kontinuierlich an und führen zu immer mehr und immer längeren Krankschreibungen bis hin zu Frühverrentungen. „Im Arbeitsunfähigkeitsgeschehen der vergangenen Jahre gibt es keine Entwicklung, die gravierender wäre“, resümiert die DAK (Deutsche Angestellten Krankenkasse) in ihrem Psychreport 2022. Von 2011 bis 2021 hat die Zahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen um 41 Prozent zugenommen. In 2021 waren es bereits  276 Tage je 100 Versicherte, im Gesundheitswesen sogar 397 Kranktage je 100 Versicherte. Die Beschäftigten waren somit im Durchschnitt an 3,5 Arbeitstagen wegen einer psychischen Erkrankung nicht arbeitsfähig – die Diagnose „Burnout“ ist hierbei nicht mit eingerechnet, da die Durchschnittsdauer einer solchen Krankschreibung bei etwa 40 Arbeitstagen liegt. Und die negativen Auswirkungen von psychischer Belastung können nicht nur zu psychischen Erkrankungen führen, sondern auch körperliche (psychosomatische) Folgen haben, wie z. B. chronische Rückenschmerzen.

Psychische Belastung wirkt individuell

© Competence as a Service

Wie viele dieser psychischen Erkrankungen durch psychische Belastung am Arbeitsplatz entstanden sind, lässt sich nicht sicher nachvollziehen. Um jedoch zu verstehen, wie mit einer PsychGBU krankmachende Belastungen verhindert werden können, ist es wichtig, den Mechanismus von psychischen Fehlbelastungen zu verstehen: In der Arbeitspsychologie ist der Begriff „Belastung“ zunächst neutral zu verstehen. Belastungen können also auch positive Effekte haben und sind oft treibende Kraft für Motivation und Weiterentwicklung von Beschäftigten (siehe ASC-Beitrag „Der Mensch im Fokus der Arbeitsgestaltung“). 
Werden Belastungen aber als negativ wahrgenommen, kommt es zu einer Fehlbeanspruchung, die kurzfristig zu Symptomen wie Stress oder Demotivation und langfristig zu  (auch psychischen) Erkrankungen führen kann. Dies hängt häufig auch von einer bestimmten Kombination von Faktoren ab, beeinflusst von der individuellen Fähigkeit (z. B. Selbstbild, Resilienz, Ausbildung und Erziehung), diese Belastung zu verarbeiten.

Auswege aus kritischen Fehlbelastungen

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Was tun, wenn die Belastung am Arbeitsplatz zur Fehlbelastung wird? Katja Suding hat sich während ihrer Politikkarriere mehrere Auszeiten genommen und ist schließlich sogar ganz aus der Politik ausgestiegen. Dafür braucht es nicht nur die finanzielle Machbarkeit, sondern auch den Mut, gegebenenfalls ganz mit dem bisherigen Arbeitsumfeld zu brechen. Ein Ausweg ist dieser Weg für den Großteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht. Nach Überarbeitung des Arbeitsschutzgesetzes 2013 sind jedoch die Unternehmen verpflichtet, die psychische Belastung Ihrer Beschäftigten zu ermitteln und Fehlbelastungen zu beheben.

Die psychische Gefährdungsbeurteilung als Lösungsweg

Wie belastend unterschiedliche Faktoren am Arbeitsplatz auf die Beschäftigten in Unternehmen wirken, kann mit Gefährdungsbeurteilungen,  spezifisch mit der PsychGBU, ermittelt werden. Die daraus resultierenden Ergebnisse müssen analysiert und eventuelle Fehlbeanspruchungen durch passende Maßnahmen entgegengewirkt werden. Die PsychGBU sollte dabei Teil und Prozess eines betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) sein, denn so kann die systematische und strukturierte Entwicklung, Planung und Lenkung betrieblicher Strukturen und Prozesse koordiniert werden, um die Gesundheit der Beschäftigten zu erhalten und zu fördern.

Psychische Belastung bei Führungskräften und Wirkung auf die Mitarbeitenden

Führungskräfte sind häufig einer besonders hohen Stressbelastung ausgesetzt. Dies zeigt beispielsweise die Studie “Global Leadership Forecast 2021” DDI World auf. Demnach fühlen sich fast 60 Prozent der Führungskräfte am Ende des Arbeitstages erschöpft und ausgebrannt. Die deutsche Studie „Führen und gesund bleiben – Psychische Gesundheit von Manager/innen (PsyGeMa)“ der SRH Hochschule Heidelberg stellt ebenfalls fest, dass Führungskräfte überdurchschnittlich oft psychisch erkranken, z. B. an depressiven Symptomen und emotionaler Erschöpfung. Das hat nicht nur gravierende gesundheitliche Folgen für die Betroffenen, sondern auch erheblich negative Auswirkungen für die jeweiligen Organisationen. Denn über die damit verbundenen Fehlzeiten hinaus wurde erhoben, dass Führungskräfte, die sich ausgebrannt fühlen, weniger an ihre Organisationen gebunden sind und diese fast viermal häufiger verlassen. Zudem neigen gestresste Führungskräfte oft dazu, den selbst empfundenen Druck an ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen weiterzugeben – mit oft fatalen Auswirkungen, denn die psychische Fehlbelastung einzelner Führungskräfte läuft so Gefahr, sich schnell durch die ganze Organisation zu verbreiten.
Der Zusammenhang zwischen Führungsstil und Gesundheit von Beschäftigten wird auch in weiteren Studien (s. u.) belegt: Ein autoritärer Führungsstil lässt die Fehlzeiten im Team nachweislich ansteigen, während eine mitarbeiterorientierte Führung Belastungen und Fehlzeiten eher reduziert.

Gelingensbedingungen der PsychGBU

Natürlich ist es wichtig und absolut notwendig, systematisch vorzugehen, die notwendige Fachexpertise einzuholen und alle Schritte der PsychGBU mit geeigneten Instrumenten sorgsam abzuarbeiten. Oft erzielen aber auch bereits perfekt durchgeführte PsychGBUs und die zielgerichtet entwickelten Maßnahmen nicht den gewünschten Effekt. Woran kann das liegen?

Die Haltung der Durchführenden ist entscheidend

Das Entscheidende für die Wirksamkeit und damit den Erfolg der GBU ist die Haltung, die hinter diesem Prozess steht: Denn hier sollten die Wirkungen der Prozesse und Verhaltensweisen auf die Beschäftigten im Mittelpunkt der Erhebung stehen. Da die Erhebungen ein sehr empfindliches und persönliches Feld betreffen, ist das Vertrauen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ablauf der PsychGBU, die entwickelten Maßnahmen, aber vor allem in die dafür verantwortlichen Personen entscheidend. Beschäftigte haben oft feine Antennen für die Authentizität dieses Prozesses. Es scheitert jedoch seltener daran, dass sie ihre persönliche Belastung nicht offen legen wollen, sondern daran, ob Geschäftsführung und Führungskräfte belastende Situationen im Unternehmen wirklich verbessern wollen oder die PsychGBU nur als lästiges Projekt ansehen, welches aufgrund gesetzlicher Bestimmungen durchgeführt werden muss.
Beim Blick auf Belastungsfaktoren wie diejenigen der Job-Demand/Job-Control-Theorie wird klar, dass die Maßnahmen der PsychGBU auch tief in Führungsstrukturen und Führungsverhalten eingreifen müssen, um positive Effekte zu erzielen. Das heißt, dass die Geschäftsführung und  Führungskräfte selbst Bereitschaft signalisieren müssen, notwendige Änderungen einzuleiten, um etwa das Spannungsfeld aus Arbeitsintensität und Handlungsspielraum positiv zu verändern oder um für eine unternehmensweit positive soziale Unterstützung zu sorgen. Ist diese Haltung nicht spürbar, läuft die PsychGBU Gefahr, wenig bis keine gewünschte Wirkung zu entfalten. Die Teilnahme der Beschäftigten an Befragungen, Interviews oder Workshops ist dann oft unzureichend und die Umsetzung von nicht wirksam empfundenen Maßnahmen wird boykottiert: Es bleibt alles beim Alten.
Eine gute Haltung für eine erfolgreiche PsychGBU stellt dagegen die offene Kernfrage: „Wie wollen wir zukünftig gemeinsam arbeiten?“ Um Antworten auf diese Frage zu finden, kann es hilfreich sein, auch das eigene Wirken und die eigene Rolle als Führungskraft zu hinterfragen. Wissenschaftliche Schützenhilfe dazu gibt z. B. Otto Scharmer, Professor am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge/USA. Er stellt in seiner Theorie dem gegenwärtigen „Ego-System“ das „Eco-System“ gegenüber und wirbt für „ein neues Bewusstsein“ und Strukturen, die „das Gemeinsame“ in den Vordergrund stellen.

Die Haltung als Erfolgsgarant einer PsychGBU

Die PsychGBU ist ein notwendiges und verpflichtendes Instrument der Arbeitssicherheit. Die stark steigenden Krankheitstage zeigen eindrücklich, dass es höchste Zeit ist, dieses Instrument effektiv zu nutzen. Doch anders als manch andere Arbeitssicherheitsmaßnahmen tangieren wirksame Maßnahmen der PsychGBU auch die Geschäftsführung und die Führungskräfte selbst. Die ehrlich gemeinte Haltung, etwas verändern zu wollen und das dadurch gewonnene Vertrauen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesen Prozess lässt die PsychGBU zum Erfolg werden.
Dazu ist es wichtig, sich als Geschäftsführung oder als Führungskraft mit der eigenen Haltung auseinander zu setzen und kontinuierlich daran zu arbeiten. Dies benötigt Zeit. Wer aber in kleinen Schritten anfängt, begibt sich nicht nur auf den Weg zur Gesunderhaltung von sich, dem eigenen Team und Unternehmen, sondern entwickelt sich und den Erfolg seiner Organisation stetig weiter.
Quellen:
Buchtitel „Reißleine“ von Katja Suding (https://www.herder.de/unternehmen/buchhandel/bestellscheine/katja-suding-reissleine/?gclid=Cj0KCQjwr-SSBhC9ARIsANhzu14E8f4mmi2qgF5UkQOXZe9_EsodE6Ne7Z3aNTfi9ZzA1m6SpEZiRhIaAlgWEALw_wcB
DAK Psychreport 2022 (https://www.dak.de/dak/bundesthemen/psychreport-2022-2533048.html#/)
Global Leadership Forecast 2021 (www.ddiworld.com/global-leadership-forecast-2021 )
Studie PsyGeMa der Hochschule Heidelberg (https://www.researchgate.net/publication/281584139_Psychische_Gesundheit_von_Fuhrungskraften“)
BGW-Studie Welchen Einfluss haben Führungskräfte (https://www.bgw-online.de/bgw-online-de/service/medien-arbeitshilfen/medien-center/fuehrung-und-gesundheit-welchen-einfluss-haben-fuehrungskraefte-22394)
Otto Scharmer, Professor am Messachusetts Institute of Technology in Cambridge, stellt dem gegenwärtigen „Ego-System“ das „Eco-System“ gegenüber (https://www.youtube.com/watch?v=5gOZLC2v944)
Katja Henge, 29.04.2022
Über den Autor:
Katja Henge, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Coach und Expertin für psychologische Beratungsfragestellungen sowie Partnerin bei CaaS – Competence-as-a-Service GmbH
www.katjahenge.de

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